In meiner Jugend wurde ich mit einem Zahndoktor ganz eigener Art bekannt.
Mich quälte schon seit Tagen ein ekelhafter Zahnschmerz an einem Bakkenzahn.
Alle Hausmittelchen, die damals in jedem Haus vorhanden waren, wollten
nicht helfen, und meinen Angehörigen ging mein Wehleidigsein auf den
Wecker. Aber Großmütter, die damals noch zur Großfamilie
gehörten, wussten sich ja in allen Lebenslagen zu helfen. So nahm
mich meine Großmutter erst einmal auf den Schoß und tröstete
mich. Dann guckte sie mir noch mal ins »Maul« und sagte: »
Jo, Jongelche, dä Zoah muß raus. Ets giehste mol no Holzese
nom Schreiner Fries, dä zäiht der den raus.« »Oma,
wat soll aich da beim Schreiner, aich hoe doch Ziehwiehre, dä ka mir
doch ken Zoah auszejh?« »Dau brauchst goar ke Angst zu hoa,
dä ka dat genau su gout wie e Doktor.«
Einer Großmutter glaubte man ja, denn die kannte alles, was Leiden
anbetraf. So stieg auch bei mir das Stimmungsbarometer, und ich hoffte,
bald meine Schmerzen loszuwerden.
Meine Großmutter zog mich schnell um, denn man musste ja »fein«
gemacht sein, wenn man in ein Nachbardorf ging. Sie wußte auch gleich,
wie ich zu besagtem Schreiner Fries kam. »Gleich kemmt der Brejbotts-Ernst,
dä ka daich betnemme.«
Wer kannte von uns Jungen »dä Brejbotts-Ernst« nicht.
Er kam ja Tag für Tag mit seinem »Charett«, einer zweirädrigen
Kutsche, und holte in Dresselndorf die Paket- und Briefpost für
die Holzhäuser ab. Das Ungewöhnliche an diesem Gefährt aber
war, daß es nicht von einem Pferd, sondern von einem Esel gezogen
wurde. Das hatte für mich trotz aller Schmerzen doch einen bestimmten
Reiz.
Meine Großmutter hatte Ausschau gehalten. Da kam endlich »
der Brejbotts-Ernst« um die Ecke »der Pärrschauer«
gefahren. Von weitem rief meine Großmutter schon: »Ernst, hale
mol!« »Wat haste da?« klang es uns entgegen. »Ai,
woullte merr net den Jong bet no Holzesse nemme, dä hat sue Ziehwiehre,
der Schreiner Fries soll den Zoah rauszejh.« »Ai, frailich
nemmen aich den Jong bett.« Ich erklomm mit Hilfe meiner Großmutter
das hohe Gefährt, und ab ging die Post. Aber so einfach, wie ich mir
die Fahrt vorgestellt hatte, ging sie doch nicht vonstatten. »De
Hiehleweg« hinab ging alles gut. Unser gutes Grautier beschleunigte
seine Schritte etwas, und ängstlich sah ich den Ort meiner Plage oder
auch Erlösung immer näher kommen. Doch ich hatte nicht mit des
Esels Tücke und Störrigkeit gerechnet. So flott er auch marschiert
war, hatte er plötzlich keine Lust mehr und blieb stur stehen. Mein
guter Kutscher gab ihm gute Worte und redete ihm gut zu. Dann stieg er
ab, sprach, jetzt ärgerlich geworden, in einem anderen Ton mit ihm;
aber das half auch nichts. Der Esel blieb stur stehen, wo er stand. »Warte,
aich krejen daich schu!« sagte der Briefbote, bestieg sein Gefährt,
nahm seinen Stock und brannte seinem Gefährten eins über den
Hintern, daß dieser einen Satz nach vorne machte. Dadurch verschob
sich die Sitzbank - Charretts haben bekanntlich keinen fest-stehenden
Bock, sondern eine verschiebbare Sitzbank -‚ daß wir nach hinten
flogen und uns zwischen den Paketen wiederfanden. Im Nach-hinten-Kippen
sah ich noch, daß der Esel auch für kurze Zeit mit den beiden
Vorderbeinen in der Luft schwebte und erst, nachdem wir das Gleichgewicht
wieder hergestellt hatten, wieder festen Boden unter die Füße
bekam. Von nun an ging die Fahrt ohne Zwischenfälle weiter.
Beim Brunnen hielt der »Brejbott« mit seinemGefährt
an und sagte: »Jong, ets mußte rabb«, zeigte mit seinem
Stock nach links oben, »lo ouwe wuohnt der Schreiner Fries«.
Mit einem höflichen »Dankeschön« verabschiedete ich
mich von dem freundlichen Briefboten. Bangenden Herzens ging ich die paar
Schritte zum Hause meines »Peinigers«, wie ich meinte. Als
ich durch den Ern kam, hörte ich in der Küche das Werkeln einer
Frau. Höflich klopfte ich an und trat auf das »Herein«
ein. Die Frau empfing mich freundlich, nicht ohne nach dem Woher und Wohin
zu fragen. Nach einigen weiteren Sätzen hatte sie mein Zutrauen gewonnen,
und ich vertraute ihr mein Anliegen an. »Gang emol i de Werkstatt,
do ess e. Hä mächt et jo nemieh sue gern. Owwer wenn dau sue
Ziehwiehre hast, gläwen aich, dat hä et doch ditt.«. Ich
ging in die Werkstatt. Da stand der Mann, der mich von meinen Schmerzen
befreien sollte. Manchesterboxe trug er, ein blaugestreiftes Hemd, und
eine blaue Schürze hatte er vorgebunden. Ich trug ihm mein Anliegen
vor, worauf er mich aufforderte, mit ihm hereinzukommen. Jetzt gingen wir
in die »gute Stube«, die sonst nur an Sonntagen oder hohen
Feiertagen benutzt wurde. Zwischendurch ging er in Küche und wusch
sich die Hände eingehend. Als er wieder hereinkam, nahm er einen Stuhl
und bat mich, mich rittlings daraufzusetzen. Gesagt, getan! Dann ging er
an ein kleines Glasschränkchen, das an der Wand hing, in dem kleine
vor Sauberkeit blinkende Zangen und Zängelchen lagen. Er nahm eins
heraus und kam wieder zu mir zurück, setzte mich zurecht und sagte:
»Ets mach emol det Maul weit off unn weiß mer mol, wue et wieh
ditt.« Ich zeigte ihm den Zahn. Er nahm sein Zängelchen und
mit einem Ruck war er raus. »No, Jong, harret wich gedoe?«
»Ein bißchen« sagte ich und war froh, daß ich nun
meiner Schmerzen ledig war. Ich fragte noch, was ich zahlen müsse.
»Ai, gib mer en Mark, da es et gout«, meinte er. Damit war
die gefürchtete Prozedur zu Ende, und ich zog leichten Herzens nach
Dresselndorf.